971-210 - Der Seidenstickerwagen

  • Hallo liebe Freunde der schmalen Spur,

    Nachdem ich mit den ersten beiden Wagenvorstellungen des heutigen Nordstreckenzuges bei Euch wohl den richtigen Nerv getroffen hatte, möchte ich Euch jetzt einen dritten Wagen vorstellen, der vor fast 25 Jahren betriebsfähig nach Putbus zurückkehrte.

    Vor genau 25 Jahren - der erste Wagen des Fördervereins

    Vor genau 25 Jahren - der zweite Wagen des Fördervereins

    Der heutige KAB 971-210 hat eine bewegte Geschichte.

    Als Rü.K.B. 20 wurde er im Jahre 1900 von der Aktiengesellschaft für Fabrikation von Eisenbahnmaterial Görlitz an die Rügenschen Kleinbahnen geliefert.

    Äußerlich auf den ersten Blick einem normalen holzverkleideten zweiachsigen Personenwagen gleichend, verrieten die unterschiedlichen Fensterbreiten, die Gitter hinter den schmaleren Fenstern und die ungefähr mittig angeordneten Briefschlitze, dass dieser Wagen eine andere Funktion besaß. Der Wagen 20 entsprach der Gattung CPost und besaß neben 13 Sitzplätzen 3. Klasse im Abteil der einen Wagenhälfte ein Postabteil in der anderen Wagenhälfte. Einen Durchgang im Inneren gab es nicht.

    Nachdem die Rü.K.B. etwa 1928 die begleitete Bahnpost aufgab, funktionierte sie das Postabteil in ein Sitzabteil mit 12 Plätzen der 2. Wagenklasse um. Für einen jetzt geschaffenen Durchgang mit Tür entfiel auch ein Sitzplatz der 3. Wagenklasse.

    Die Deutsche Reichsbahn ersetzte die Preßkohlenheizung in den 50er Jahren durch einen Ofen im 3. Klasse-Abteil und baute das 2. Klasse-Abteil in ein Traglastabteil mit 9 Sitzplätzen um. Durch die Aufstellung des Ofens entfielen 4 weitere Sitzplätze, so dass der Wagen nun 17 Sitzplätze aufwies. Zeitgleich entfiel die äußere Holzverkleidung und der Wagenkasten wurde mit Blech verkleidet.

    Als Kbtrp 971-210 war der Wagen bis zur Betriebseinstellung 1969 auf der Strecke Bergen Ost – Altenkirchen bzw. Wittower Fähre im Einsatz. Er wurde weder an Privat verkauft, noch verschrottet, sondern diente bis Ende 1971 als Aufenthaltswagen im Abbauzug, der unregelmäßig von einer der verbliebenen Dieselloks 100 901 bzw. 100 902 gezogen wurde. Durch das Traglastenabteil konnte tragbares Werkzeug gut transportiert werden.

    Nach dem Abbau blieb er in Bergen auf den letzten Gleisresten mit den beiden Dieselloks stehen und geriet langsam in Vergessenheit.

    Nachdem 1976 der Beschluss zum Erhalt der Bäderstrecke gefällt worden war und dort der Oberbau dringend erneuert werden musste, erinnerten sich die Eisenbahner der beiden in Bergen abgestellten Dieselloks und überführten sie und den 971-210 nach Putbus.

    Der Wagen blieb aber betriebsunfähig abgestellt.

    Ab 1980 richtete der Deutsche Modelleisenbahn Verband der DDR DMV am Nordkopf, links der ehemaligen Ausfahrt nach Altefähr auf einem Abstellgleis eine Freiluftausstellung und in einem Personenwagen eine Ausstellung kleinerer Devotionalien und Fotos ein, den sogenannten Traditionsbereich. Gezeigt wurden nicht betriebsfähige historische Wagen. Ein zweites geplantes Gleis sollte den betriebsfähigen Traditionszug aufnehmen, wurde aber nie gebaut.

    Der 971-210 wurde in diesem Bereich gezeigt, aber nie aufgearbeitet. Zur Sicherung waren die Fensteröffnungen mit angepunkteten Blechen verschlossen. Der Wagen war sogar einmal nach Perleberg transportiert worden, aber in der dortigen Werkabteilung des Raw Wittenberge nicht aufgearbeitet worden.

    Offiziell gehörte er jetzt zum Bestand des Verkehrsmuseums Dresden, aber es konnte auch später nicht zweifelsfrei geklärt werden, ob es einen tatsächlichen Eigentumsübergang gegeben hatte.

    Eines meiner ersten Eisenbahnfotos aus dem Frühjahr 1984 zeigt einen Teil des Traditionsbereichs. Der Wagen 971-210 steht ganz rechts hinten.

    Hier waren meist folgende Wagen ausgestellt: KB 4 970-151 (als Rü.K.B. 30) mit Anschauungstafeln zur Geschichte der Kleinbahn, KB 4 970-771 (als Rü.K.B. 31) als Schlafwagen für die Aktiven des DMV, Gw 97-42-41 (falsch beschriftet als Rü.K.B. 141), Ow 97-40-73, Schneepflug 97-49-15, Gw 97-42-48 und KBtrp 971-210 (grün ohne Beschriftung)

    Nach der Wende in der DDR kamen die Bemühungen jäh zum Erliegen und der DMV löste sich auf. Der 1991 gegründete Förderverein zur Erhaltung der Rügenschen Kleinbahnen kümmerte sich zunächst erst einmal um den Erhalt der Bahn an sich, die mit den neuen politischen Verhältnissen nun wieder akut stilllegungsbedroht war.

    Ab 1991 unterstütze auch der Unternehmer und Eisenbahnfreund Walter Seidensticker aktiv die Bemühungen zum Erhalt der Bahn und brachte in der Folge mehrere Loks und Wagen in den Bestand ein. So wurde er auch auf den unansehnlichen Wagen 971-210 aufmerksam und einigte sich mit dem Verkehrsmuseum, ihn zu übernehmen und für den Betrieb auf Rügen aufarbeiten zu lassen.

    So baute das Werk Görlitz Schlauroth für den Wagen einen neuen Wagenkasten und arbeitete ihn umfassend auf. Er erhielt erstmals eine Druckluftbremse und nun auch Rollenlager. Die hatte er nie besessen, wohl aber der Wagen Rü.K.B. 3, der in den 30er Jahren als Beiwagen für den Triebwagen T 1 entsprechend umgerüstet worden war und als Personenwagen 979-008 bis 1969 mit diesen Lagern im Einsatz blieb.

    Die Gewichtsbremse blieb als Feststellbremse erhalten, wirkt heute aber nur noch auf eine Achse.

    Der Innenraum wurde in Görlitz abermals umgebaut. Das ehemalige 3. Klasse-Abteil erhielt 12 Polstersitze mir weinrotem Samtstoff, entsprechend der alten 2. Klasse der Rü.K.B., wird jetzt aber als 1. Klasse bezeichnet. Das Traglastenabteil ist heute mit 10 Sitzen 3. Klasse und einem Ofen bestückt. Der Wagen ist mit Blech verkleidet.

    Das Polsterabteil mit den weinroten Plüschsitzen bekam mit RüKB-Logo bestickte Schoner, von denen leider hier schon einer fehlt. Sie wurden nach und nach leider alle gestohlen. Der Fußboden war hier mit Auslegware belegt worden und die Wände in Naturholz mit Klarlack gestrichen, was nicht dem originalem Zustand entspricht. (Zustand 1995)

    Die Holzklasse mit den neu gebauten Sitzbänken der üblichen Art und dem Ofen. Hier genügt ein Fußboden mit braunem Linoleum. (Zustand 1995)

    Am 5. Juni 1995 wurde der braun lackierte Wagen nach seiner Untersuchung in Görlitz in Putbus in Betrieb genommen und kommt seitdem im Sonderzugdienst und vor allem als Charterwagen sehr häufig zum Einsatz. Er ist seit 1995 fast ununterbrochen betriebsfähig und erfreut sich vor allem bei Hochzeits- und Geburtstagsgesellschaften größter Beliebtheit, wenn er als Sonderwagen in Planzügen gebucht werden kann.

    Anfang Juni 1995 kam der Wagen aus dem DB-Werk Görlitz in Putbus an. Für die Be- und Entladung hatte das Werk eine Verlängerung auf dem Pufferteller festgeschweißt und eine lange provisorische Kuppelstange mitgeliefert. Beim Abrollen des Wagens half unsere Köf 6003 und ich musste das Abrollen mit Hilfe der Gewichtsbremse kontrollieren.

    Er hat seine heimatlichen Gleise erreicht und wird von den Eisenbahnern in Empfang genommen. Eine Probefahrt ist schon geplant.



    Diese Probefahrt galt auch für den neuen roten Fahrradwagen 974-323, dessen Inbetriebnahme etwas komplizierter war, denn er war nicht mehr als Gepäckwagen, sondern als Fahrradtransporter gemeldet. Das erforderte einige bürokratische Verrenkungen. Der GGw 419 am Schluss war aber schon 1994 abgenommen worden.

    Das Wetter war leider nicht optimal. Die Probefahrt mit der Nicki+Frank S als Zuglok durfte ich fahren.



    Die Rückleistung hat Sellin erreicht. Die mitfahrenden Kollegen der Wagenwerkstatt hatten keine gravierenden Probleme an den beiden zu erprobenden Wagen gefunden, so dass die Mängelliste im Probefahrtprotokoll entsprechend kurz blieb.



    Noch unbeschriftet sieht er in Posewald etwas nackt aus. Aber schon wenige Tage danach kam er das erste Mal in einem Sonderzug zum Einsatz. Seitdem vervollständigt er viele Sonderzüge und wird für Familienfeiern gern gebucht, so dass der "Seidenstickerwagen" wohl heute der am häufigsten eingesetzte Traditionswagen ist.



    Solche Züge gab es auch. Als Walter Seidensticker uns im Spätsommer 1998 besuchte und gern einmal seine Nicki+Frank S führen wollte, er war ja offiziell mit einem Ehrenlokführerdiplom ausgestattet und durfte unter Aufsicht auch mal an den Regler, diente der Wagen 20 als Zuglast. Der auf Rollenlagern leicht laufende Wagen war nicht einmal für die schwache HF 110 C eine Herausforderung.



    Auch an der Eröffnung des neuen Dreischienengleises am 28.5.1999 nahm der Wagen teil, wie auch an einer Sonderfahrt am kommenden Tag.


    Walter Seidensticker ließ zunächst ein Schildchen „Besitzer Walter Seidensticker – Bielefeld“ am Rahmen anbringen. Nach einiger Zeit konnte er sich aber mit dem Verkehrsmuseum Dresden einigen und den Wagen in sein Eigentum übernehmen, worauf ein entsprechendes Schild „Eigentümer Walter Seidensticker – Bielefeld“ angebracht werden konnte.

    Im Frühjahr 2006 war der braune Lack schon ziemlich verwittert, worauf Walter Seidensticker einer Lackierung des Wagens im grünen Reichsbahnzustand zustimmte. Im Göhrener Lokschuppen wurde der Wagenkasten vollkommen neu lackiert und beschriftet, worauf der Wagen im August 2006 erstmals als KAB 971-210 mit DR-Logo in Betrieb genommen werden konnte.

    Bei den Eisenbahnern des Rasenden Roland wird aber aber auch heute noch häufig als Wagen 20 oder als Seidenstickerwagen tituliert, obwohl letzteres nicht mehr zutrifft.

    Am 25. April 2006 unternahm die Nicki-Frank S nochmals und zwar letztmals als schwarze 99 4652 einen Ausflug nach Göhren. Der 971-210 war auch mit von der Partie, hatte aber äußerlich schon sehr gelitten.



    Am 18. August 2006 ist der Wagen neu lackiert und beschriftet wieder als DR-Wagen unterwegs. Mit einem kurzen Sonderzug im Auftrag von Walter Seidensticker hat er Binz LB erreicht.



    Gemeinsam mit den Wagen 971-212 und 971-214 hat der 971-210 Seelvitz erreicht. Die Lok war nun wieder blau und passte genau genommen nicht zu dem Zug. Die Nicki+Frank S verließ uns Anfang 2008, die Wagen sind heute mit der echten 99 4652 unterwegs.


    Im Mai 2009 verkaufte Walter Seidensticker diesen und weitere Wagen an die PRESS für die Rügensche BäderBahn. Sein Einsatz im Sonder- und Charterverkehr blieb allerdings unverändert. Seit 2014 kamen immer häufigere Einsätze mit den anderen aufgearbeiteten Zweiachsern im Nordstreckenzug dazu.

    Zur Zeit befindet er sich nach einem Fristablauf im Februar 2020 in einer Hauptuntersuchung.

    In diesem Zustand konnte ich den KAB 971-210 im November 2019 fotografieren. Nach seiner letzten Lackierung war eine sehr große Beschriftung angebracht worden, die sicher bald verschwinden wird. Im Februar 2020 liefen die Untersuchungsfristen ab und der Wagen wurde sofort zur Aufarbeitung abtransportiert.

    Alle Fotos: Achim Rickelt

    Ich hoffe, Euch gefällt auch dieser Wagen, den vermutlich viele von Euch schon kennengelernt haben. Ich würde mich natürlich immer über Ergänzungen oder Fragen freuen.

    Wer hat noch ältere Fotos, die er uns zeigen darf?

    Viele Grüße

    Euer Dampf – Achim Rickelt

  • Hallo Max,

    sehr schön, vor allem wegen der guten Auflösung. Das Foto selbst ist relativ bekannt, aber hier kann man jetzt sehr gut die Details erkennen, so z.B. die Klappen für die Preßkohleheizung im 3. Klasse-Abteil.

    Was mir etwas unklar ist, wäre der zylindrische Aufsatz auf dem Dach des Postabteils. Dieses Abteil besitzt Ofenheizung. Ist das eine Art Kamin?

    Vielen Dank

    Dampfachim

  • Hallo Ronny,

    den Abzug der Lampe sieht man auf dem Dach des 3. Klasse-Abteils und der ist viel kleiner. Oder hatten die Postler einen extra großen Strahler?

    Viele Grüße

    Dampfachim

  • [...] Oder hatten die Postler einen extra großen Strahler? [...]

    Wirklich überraschen würde es mich nicht, die Anforderungen an arbeitende Beamte der Kaiserlichen Post waren sicherlich höher als die der Reisenden dritter Klasse. Damals wird es auch schon dem Verwendungszweck angepasste, unterschiedlich leuchtstarke Lampen gegeben haben.

    VG Ronny

  • Hallo Ronny,

    gut möglich, aber das wüsste ich gern genauer. Ich kann nämlich an diesem großen Blechkragen nichts auffälliges erkennen.

    Viele Grüße

    Dampfachim

  • Hallo Achim,

    Befindet sich noch der ebenfalls gezeigte „Panoramic 2000“ bei Euch? Woher stammt der überhaupt?

    Gruß Ronald

    Viele Grüße,

    Ronald!

  • Hallo Achim,

    dann empfehle ich dir diesen Link:

    http://www.zeno.org/Roell-1912/A/B…isenbahnwagen35

    Durch dieses Machwerk habe ich mich schon einmal durchgekämpft um zu erfahren, was das auf meinem Technomodell/PMT Bänkelwagen ist und

    ob das überhaupt vorbildgerecht sein könnte:

    Ich bin für mich zu der Entscheidung gekommen, dass es eine Öllampe sein muss.

    Mehr kann ich leider auch nicht beisteuern. Zu 100% wird man es mit dem Foto alleine nicht herausbekommen. Vielleicht schlummern ja in den Archiven noch Texte mit den Austattungsmerkmalen dieser Wagen? Vielleicht gibt es auch überlieferte Vorschriften der Kaiserlichen Post dahingehend?

    MfG Ronny